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ANATOMIE/PHYSIOLOGIE

Weibliches und männliches Gehirn

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Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur in körperlichen Merkmalen und der Fortpflanzungsfunktion, sondern auch darin, wie sie abstrakte Aufgaben lösen - also in der Art ihrer Intelligenz.

Im Zuge der Gleichberechtigung galt und gilt es als fortschrittlich, darauf zu bestehen, die Geschlechter seien in ihren kognitiven Fähigkeiten nur minimal verschieden - und das auch nur aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen während der kindlichen Entwicklung. Die Mehrzahl der wissenschaftlichen Befunde legt jedoch nahe, dass der Feinbau des Gehirns bereits so früh von Sexualhormonen beeinflusst wird, dass die Umwelt von Geburt an - und auch schon vorher - bei Mädchen und Jungen auf unterschiedlich verschaltete Gehirne einwirkt. Das macht es nahezu unmöglich, Erfahrungseinflüsse getrennt von der physiologischen Disposition zu erfassen.

Verhaltensstudien sowie neurologische und endokrinologische (hormonelle) Untersuchungen haben die Vorgänge erhellt, aus denen sich Geschlechtsunterschiede in der Funktionsweise des Gehirns ergeben. Deren physiologische Grundlagen hat man daher in mancherlei Hinsicht besser verstehen gelernt. Des weiteren legen Studien über die Wirkungen von Hormonen auf die Gehirnfunktion während der gesamten Lebensspanne nahe, dass der evolutionäre Selektionsdruck, auf den solche Geschlechtsunterschiede letztlich zurückzuführen sind, dennoch eine gewisse Flexibilität in den geschlechtsspezifischen Begabungen erlaubt.

Wichtig ist festzuhalten, dass die Geschlechter zwar in spezifischen kognitiven Fähigkeiten wesentlich zu differieren scheinen, aber nicht in der Gesamtintelligenz (deren Höhe man häufig als Intelligenzquotienten anzugeben versucht). Wir alle wissen, dass Menschen unterschiedliche intellektuelle Stärken haben. Manche sind mit dem Mundwerk, andere mit den Händen geschickter. Auch wenn zwei Individuen an sich die gleiche intellektuelle Leistungsfähigkeit haben (den gleichen IQ), können sie doch über jeweils andere spezifische Fähigkeiten verfügen.

Im Durchschnitt haben Männer ein deutlich besseres räumliches Vorstellungsvermögen. Insbesondere lösen sie leichter Aufgaben, bei denen die Versuchsperson einen Gegenstand in der Vorstellung drehen oder auf andere Weise handhaben soll. Auch bei Tests, die mathematisches Schlussfolgern oder die Orientierung über einen Weg verlangen, sind sie Frauen klar überlegen. Zudem schneiden sie beim Einsatz zielgerichteter motorischer Fertigkeiten - beim Werfen oder Auffangen von Gegenständen - besser ab.

Frauen können dafür im Allgemeinen schneller zusammenpassende Objekte erkennen, haben gleichsam eine höhere Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Sie verfügen über eine höhere verbale Gewandtheit (Wortflüssigkeit); so können sie unter anderem eher Wörter finden, die einer bestimmten Bedingung genügen, etwa solche, die mit dem gleichen Buchstaben beginnen. Auch sind sie den Männern bei Rechenaufgaben überlegen sowie beim Erinnern an markante Punkte entlang eines Weges. Des Weiteren erledigen sie bestimmte manuelle Präzisionsaufgaben rascher, zum Beispiel das Einstecken von Stiften in vorgezeichnete Löcher auf einem Brett.

Bild: Wege in einer Landschaft wie der in dem Gemälde The Old Oaken Bucket (Der alte Eichenholzkübel) von Grandma Moses (1860 bis 1961) werden von Frauen und Männern auf unterschiedliche Weise gelernt. Aus Laborexperimenten weiß man, dass Frauen sich eher an markante Punkte längs des Weges erinnern - wie hier zum Beispiel an den Brunnen oder an den Baum an der Weggabelung. Männer hingegen scheinen sich eine Route schneller einzuprägen, wissen dann jedoch nicht so viele Landmarken zu nennen; sie verlassen sich bevorzugt auf räumliche Hinweisreize wie Entfernungen und Richtungen.

Einigen Forschern zufolge treten Geschlechtsunterschiede beim Problemlösen erst nach der Pubertät auf. Hingegen fanden Diane Lunn und ich (Anm.: Die Autorin D. Kimura), dass schon dreijährige Jungen beim Werfen ein Ziel besser treffen als gleichaltrige Mädchen; und Neil V. Watson eruierte während seines Aufenthalts in meinem Labor an der Universität von West-Ontario in London (Kanada), dass die bei jungen Erwachsenen gefundenen Geschlechtsunterschiede beim Zielwerfen nicht mit der jeweiligen sportlichen Erfahrung erklärbar sind. Des Weiteren fand Kimberly A. Kerns in Zusammenarbeit mit Sheri A. Berenbaum von der Universität Chicago (Illinois), dass bei der Fähigkeit, sich die räumliche Drehung von Gegenständen vorzustellen, bereits vor der Pubertät Ge-schlechtsunterschiede auftreten.

In Laborsituationen hat man systematisch untersucht, auf welche Weise Erwachsene Wege lernen. So ließ Liisa Galea in unserem Fachbereich Studierende auf einer großmaßstäblichen Landkarte einer Route folgen. Die männlichen Versuchspersonen lernten den Weg in weniger Durchgängen und machten weniger Fehler; aber nach Abschluss des Lernvorgangs erinnerten sich die weiblichen an mehr auffällige Einzelheiten entlang des Weges. Zusammen mit Ergebnissen anderer Untersuchungen weist dies darauf hin, dass Frauen auch im Alltag dazu neigen, sich an markanten Punkten zu orientieren. Die von Männern überwiegend angewandten Strategien sind indes noch nicht eindeutig geklärt.

Marion Eals und Irwin Silverman von der York Universität in North York (Ontario) untersuchten eine andere, aber wohl mit dem Orientierungsvermögen zusammenhängende Gedächtnisfunktion: Die Versuchspersonen sollten sich Gegenstände und deren Lage innerhalb eines begrenzten Raumes - in einem Zimmer oder auf einem Tisch - merken. Frauen konnten dann besser angeben, ob etwas versetzt worden war oder nicht. In meinem Labor maßen wir zudem die Genauigkeit der Gegenstandslokalisierung; Frauen konnten eine einmal gezeigte Anordnung von Gegenständen später genauer nachbauen als Männer.

Man muss solche Unterschiede freilich im richtigen Kontext sehen: Einige sind gering, andere recht markant. Da bei vielen kognitiven Tests, die im Mittel Geschlechtsunterschiede aufzeigen, die Leistungen von Männern und Frauen stark überlappen, benutzen die Forscher die Streubreite innerhalb jeder Gruppe, um das Ergebnis zu beurteilen. Angenommen, bei einem Test betrage der ermittelte Durchschnittswert für Frauen 105 und für Männer 100. Die Differenz wäre dann umso bedeutsamer, je weniger sich die Streu-breiten der einzelnen Gruppen überschnitten. Falls etwa die Einzelwerte für Frauen zwi-schen 100 und 110 variieren und die für Männer zwischen 95 und 105, wäre das ein größerer Geschlechtsunterschied, als wenn die Werte zwischen 50 und 150 beziehungsweise zwischen 45 und 145 lägen.

Ein Maß für die Streuung von Einzelwerten ist die Standardabweichung. Um die Größen des Geschlechtsunterschieds bei mehreren jeweils anderen Aufgaben vergleichen zu können, teilt man die Differenz der Durchschnittswerte der beiden Geschlechtergruppen durch die Standardabweichung. Ist der resultierende dimensionslose Zahlenwert - die Effektstärke - kleiner als 0,5, wird allgemein der Unterschied als gering eingeschätzt.

Nach meinen Daten bestehen zum Beispiel keine charakteristischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei Wortschatztests (Effektstärke 0,02), nicht verbalem Schlussfolgern (0,03) sowie verbalem Schlussfolgern (0,17). Gilt es aber, Bilder zuzuordnen, Wörter mit ähnlichen Anfangsbuchstaben zu finden oder gedankliche Beweglichkeit (Ideenflüssigkeit) zu demonstrieren, etwa weiße oder rote Gegenstände aufzuzählen, sind die Effektstärken etwas größer: 0,25, 0,22 und 0,38 und zwar sind, wie er-wähnt, bei diesen Aufgaben die Frauen eher überlegen. Die größten Effektstärken wur-den in bestimmten Tests der mentalen Rotation von Gegenständen (0,7) und der motori-schen Zielgenauigkeit (0,75) festgestellt, wobei die höchsten Einzelwerte hauptsächlich Männer erzielten.

Differenzierung der Geschlechter

Wie aber entstehen solche Unterschiede, wenn doch - mit Ausnahme der Geschlechtschromosomen - alle Menschen die gleiche genetische Basis haben? Höchstwahrscheinlich spiegeln die spezifischen Fähigkeiten von Männern und Frauen verschiedene hormonale Einflüsse auf das sich entwickelnde Gehirn wider.

Bereits in einer frühen Embryonalphase leiten Östrogene und Androgene (die weiblichen und männlichen Sexualhormone) eine geschlechtliche Differenzierung ein. Bei Säugern - einschließlich des Menschen - ist der Embryo zunächst so angelegt, dass er ebenso gut männlich wie weiblich werden könnte: mit zwei Wolffschen und zwei Müllerschen Gängen, die sich erst später zu männlichen beziehungsweise weiblichen inneren Geschlechtsorganen entwickeln.

Enthielt die befruchtete Eizelle außer dem X- auch ein Y-Chromosom, so bilden sich beim menschlichen Embryo gegen Ende des zweiten Monats männliche Keimdrüsen - die Hoden - aus; das ist der kritische erste Schritt für die Entwicklung zum Mann. Normalerweise beginnen die Hoden männliche Hormone zu produzieren, die für die körperliche Ausprägung des Geschlechts beim Embryo nötig sind: Testosteron lässt aus den Wolffschen Gängen Samenleiter und Samenblase entstehen und bewirkt - indirekt nach Umwandlung in Dihydrotestosteron (DHT) - die Bildung von Hodensack und Penis. Das Anti-Müller-Hormon veranlasst die Rückbildung der Müllerschen Gänge, die sich ohne dieses Regressionshormon zu Eileiter und Gebärmutter entwickelt hätten. (Bilden die Hoden keine männlichen Hormone oder können diese nicht auf das Zielgewebe wirken, so entsteht - sozusagen als Grundform - ein weiblicher Organismus. Störungen während der Differenzierung des männlichen Geschlechts können eine unvollständige Maskulinisierung des Fetus zur Folge haben, obgleich das Erbmaterial in allen Zellen das Y-Chromosom enthält.)

Die Geschlechtshormone bewirken jedoch nicht nur die Ausprägung männlicher Geschlechtsorgane, sondern noch mehr: Sie leiten schon früh Differenzierungen im Gehirn ein, die später für das Auftreten entsprechender männlicher Verhaltensweisen wichtig sind. Da wir das hormonale Geschehen insbesondere beim noch ungeborenen Menschen nicht manipulieren können, beruht vieles von dem, was wir im einzelnen über die frühe Determinierung des Verhaltens wissen, auf Untersuchungen an Tieren. Auch bei diesen tendiert die Entwicklung zu weiblichen Verhaltensmustern, wenn der maskulinisierende Einfluss der Hormone fehlt.

 

Wenn man ein Nagetier - etwa eine Ratte - mit ausgebildeten männlichen Genitalien unmittelbar nach der Geburt der Androgene beraubt (entweder durch Kastration oder durch Verabreichen eines Präparats, das diese Hormone blockiert), zeigt es später weniger der männlichen sexuellen Verhaltensweisen wie zum Beispiel Aufreiten, dafür mehr der weiblichen, zum Beispiel Lordosis (Emporrecken des Hinterteils). Erhält umgekehrt ein Weibchen unmittelbar nach der Geburt Androgene verabreicht, zeigt es als erwach-senes Tier mehr männliches als weibliches Sexualverhalten.

Bruce S. McEwen und seine Mitarbeiter an der Rockefeller Universität in New York haben herausgefunden, dass bei der normalen Entwicklung von männlichen Ratten sich die zwei Prozesse Defeminisierung und Maskulinisierung aufgrund etwas unterschiedlicher biochemischer Veränderungen und zu etwas verschiedenen Zeiten abspielen. Das Androgen Testosteron kann entweder in Östrogen (das üblicherweise als ein weibliches Hormon gilt) oder in Dihydrotestosteron umgewandelt werden. Nach McEwen erfolgt die Defeminisierung bei den genetisch männlichen Ratten im wesentlichen nach der Geburt und wird durch Östrogen vermittelt, wohingegen die Maskulinisierung sowohl Dihydrotestosteron als auch Östrogen erfordert und größtenteils schon vor der Geburt stattfindet. Bei den weiblichen Jungtieren schützt wohl eine als Alpha-Fetoprotein bezeichnete Substanz das Gehirn vor den maskulinisierenden Wirkungen des körpereigenen Östrogens.

Die Gehirnregion, die das weibliche und männliche Fortpflanzungsverhalten steuert, ist der Hypothalamus. Diese kleine Struktur im Zwischenhirn ist mit der (beim Menschen gerade erbsengroßen) Hypophyse verbunden, einer übergeordneten endokrinen Drüse. Wie Roger A. Gorski und seine Kollegen von der Universität von Kalifornien in Los Angeles gezeigt haben, ist der mediale Nucleus praeopticus, eine Region des Hypothalamus, bei männlichen Ratten deutlich sichtbar größer als bei weiblichen. Der Größenzuwachs bei den Männchen wird durch die Anwesenheit von Androgenen unmittelbar nach der Geburt begünstigt (vorher in schwächerem Maße). Gorskis Mitarbeiterin Laura S. Allen fand einen ähnlichen strukturellen Geschlechtsunterschied im menschlichen Gehirn. (Aber anders als bei Ratten erfolgt die sexualhormonabhängige Differenzierung des Thalamus beim Menschen schon während der Fetalentwicklung. )

Andere noch vorläufige, aber faszinierende Befunde lassen vermuten, dass sich weitere anatomische Unterschiede im menschlichen Sexualverhalten niederschlagen könnten. Im Jahre 1991 berichtete Simon LeVay vom Salk-Institut für Biologie in San Diego, dass eine der Gehirnregionen, die normalerweise bei Männern größer ist als bei Frauen - ein interstitieller Kern des vorderen Hypothalamus -, bei homosexuellen Männern kleiner sei als bei heterosexuellen. LeVay zufolge stützt dies Vermutungen, dass sexuelle Vorlieben auf einem biologischen Substrat beruhen.

Homo- und heterosexuelle Männer können bei bestimmten kognitiven Tests durchaus unterschiedliche Leistungen zeigen. Brian A. Gladue von der Staatsuniversität von North Dakota in Fargo und Geoff D. Sanders vom Polytechnikum der Stadt London (England) berichten, dass Homosexuelle bei einigen räumlichen Aufgaben, ähnlich wie die Frauen, schlechter abschneiden. Zudem stellte mein Mitarbeiter Jeff Hall kürzlich fest, dass Homosexuelle beim Zielen geringere Testwerte erreichten; hingegen waren sie heterosexuellen Männern in der Ideenflüssigkeit - dem Aufzählen von Gegenständen bestimmter Farbe - überlegen.

Die Arbeiten in diesem spannenden Forschungsgebiet haben gerade erst begonnen. Wichtig ist dabei darauf zu achten, wie stark der persönliche Lebensstil zu Gruppenunterschieden beiträgt. Andererseits stellen eventuell gefundene Gruppenunterschiede lediglich allgemeine statistische Aussagen dar; sie bestimmen einen Durchschnitt, von dem jedes Individuum abweichen kann. Solche Untersuchungen versprechen jedenfalls reiche Informationen über die physiologischen Grundlagen spezifischer kognitiver Leistungen.

Sexualhormone und Verhalten

Die Einwirkung von Sexualhormonen in einer frühen, kritischen Lebensphase scheint die Organisation des Gehirns auf irreversible Weise zu beeinflussen. Das Verabreichen derselben Hormone in einer späteren Phase hat keinen solchen Effekt. Ihre Wirkung scheint freilich nicht nur Sexualität und Fortpflanzung, sondern alles Verhalten zu betreffen, in denen sich die Geschlechter unterscheiden - die Art des Problemlösens ebenso wie die Aggressivität und die Neigung zu spielerischem Kampfverhalten bei den jungen Männchen vieler Säugetierarten. So fand Michael J. Meaney von der McGill-Universität in Montreal (Kanada), dass bei jungen männlichen Nagern Dihydrotestosteron über den Mandelkern - die Amygdala - und nicht über den Hypothalamus das spielerische Kampfverhalten auslöst. (Der Mandelkern liegt an der Innenseite des Schläfenlappens, der der jeweils anderen Hirnhälfte zugewandt ist.)

Auch männliche und weibliche Ratten haben verschiedene Problemlösestrategien. Christina L. Williams vom Barnard-College fand, dass die weiblichen stärker dazu neigen, beim Wegelement markante Punkte zu beachten - so wie es Frauen zu tun scheinen: Sie orientieren sich mehr an Hinweisreizen wie Mustern an den Wänden des Test-Labyrinths als an geometrischen Charakteristika wie Winkeln und Form der Gänge. Wenn keine bildlichen Landmarken vorhanden waren, benutzten die weiblichen Tiere allerdings - wie es die Männchen nahezu ausschließlich taten - die geometrischen Hinweisreize.

Interessanterweise bewirkt eine hormonale Intervention während der kritischen Zeitspanne, also der Entzug von Testosteron etwa durch Kastration bei neugeborenen Männchen beziehungsweise das Verabreichen von Östrogen an neugeborene Weibchen, eine völlige Umkehrung des geschlechtstypischen Verhaltens der erwachsenen Tiere.
Wie bereits erwähnt, kann Östrogen während der Gehirnentwicklung, die bei neugeborenen Ratten nicht abgeschlossen ist, eine maskulinisierende Wirkung auf das Gehirn haben; das erklärt, weshalb dann die weiblichen Tiere sich wie Männchen verhalten.

Die normalerweise vorhandenen Unterschiede im Orientierungs- und Wegfindeverhalten könnten sich im Laufe der Evolution im Zusammenhang mit Fortpflanzungsstrategien herausgebildet haben. Steven J. C. Gaulin und Randall W. Fitzgerald von der Universität Pittsburgh (Pennsylvania) argumentieren, dass Wühler-Männchen, die mehrere Weibchen begatten, größere Reviere durchwandern müssen als die Weibchen. Deshalb scheine eine besondere Orientierungsfähigkeit für ihren Fortpflanzungserfolg kritisch zu sein. Tatsächlich fanden die beiden Forscher in Labyrinth-Untersuchungen Geschlechtsunterschiede nur bei polygynen Wühlern, wie der Wiesenmaus, nicht bei monogamen Arten wie der Präriemaus.

Wiederum scheinen Verhaltensunterschiede mit strukturellen einherzugehen. Lucia F. Jacobs hat in Gaulins Labor herausgefunden, dass der Hippocampus - eine Region, die vermutlich sowohl bei Vögeln als auch bei Säugern am räumlichen Lernen beteiligt ist - bei polygynen männlichen Wühlern größer ist als bei den Weibchen. Wie es sich damit beim Menschen verhält, ist noch nicht bekannt.

Auch der Einfluss von Sexualhormonen auf das Verhalten Erwachsener lässt sich beim Menschen nicht so direkt erfassen oder experimentell angehen. Die Forscher beziehen sich vielmehr auf mögliche Parallelen zu anderen Spezies sowie auf spontan auftretende Ausnahmen von der Norm.

Besonders aufschlussreich sind Untersuchungen an Mädchen, die im Mutterleib oder als Neugeborene einem Übermaß an Androgenen ausgesetzt waren. Die Ursache kann ein genetischer Defekt sein, der eine angeborene Vergrößerung der Nebennieren verursacht; zudem gab es solche Fälle vor den siebziger Jahren, als Schwangere mit verschiedenen synthetischen Steroiden behandelt wurden. Die Vermännlichung der äußeren Geschlechtsorgane beim weiblichen Fetus infolge des Hormonüberschusses kann zwar recht früh nach der Geburt mittels plastischer Chirurgie korrigiert und die Überproduktion der Androgene durch eine medikamentöse Behandlung gedrosselt werden, die Auswirkungen auf das Gehirn lassen sich jedoch nicht mehr umkehren.

Untersuchungen von Forschern wie Anke A. Ehrhardt von der Columbia Universität in New York und June M Reinish vom Kinsey-Institut in Bloomington (Indiana) haben ergeben, dass Mädchen mit übermäßiger Androgenexposition als Heranwachsende außergewöhnlich wild und aggressiv sind. Dies wurde allerdings nur aus Interview mit den betroffenen Mädchen und derer Müttern, aus Beurteilungen von Lehrern oder aus Fragebögen gefolgert, welche die Mädchen selbst ausfüllten; mithin sind Einflüsse durch Erwartungen des Erwachsenen, denen die Lebensgeschichte des jeweiligen Mädchens bekannt ist, oder der Mädchen selbst schwer auszuschließen.

Deshalb sind die objektiven Untersuchungen von Sheri Berenbaum und Melissa Hines von der Universität vor Kalifornien in Los Angeles überzeugender. Sie beobachteten das Spielverhalten von betroffenen Mädchen und verglichen es mit dem ihrer männlichen und weiblichen Geschwister.

Von einer Auswahl an Autos und Baukästen, Puppen und Puppenküchen, Büchern und Brettspielen bevorzugten diese Mädchen das eher typisch maskuline Spielzeug; und sie beschäftigten sich beispielsweise mit Autos ebenso lange wie normale Jungen. Sie unterschieden sich bei der Auswahl von Spielzeug gleichermaßen wie die Jungen von den nicht betroffenen Mädchen. Da anzunehmen ist, dass die Eltern diese Töchter mindestens ebenso zu typisch weiblichem Verhalten ermuntern wie deren nicht betroffene Schwestern, legen diese Befunde nahe, dass die Spielzeugpräfe-renz tatsächlich auf gewisse Weise durch die frühen hormonalen Einflüsse verändert worden ist.

Auch das räumliche Vorstellungsvermögen - üblicherweise beim männlichen Geschlecht besser ausgebildet - ist bei Mädchen, die früh einem Übermaß an Androgenen ausgesetzt waren, betont.

Susan M. Resnick, Sheri Berenbaum und ihre Kollegen berichteten, dass sie ihren nicht betroffenen Schwestern bei Tests zum räumlichen Vorstellungsvermögen sowie bei der Aufgabe, einfache Formen aus einer Vielzahl überlagerter Strukturen herauszufinden, überlegen waren. Darin sind sonst männliche Versuchspersonen im Durchschnitt besser als weibliche. Bei anderen Tests zur Wahrnehmung, zu verbalen Fähigkeiten und zum Schlussfolgern gab es keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.

Hormonspiegel und kognitive Leistungen.

Aus diesen und ähnlichen Untersuchungen könnte man schließen, das räumliche Vorstellungsvermögen sei generell umso besser, je höher der Androgenspiegel ist. Dem scheint aber nicht so. Im Jahre 1983 fand Valerie J. Shute, damals an der Universität von Californien in Santa Barbara, Hinweise auf einen nicht linearen Zusammenhang: Sie bestimmte bei Studenten und Studentinnen den Androgengehalt im Blut. Die Werte streuten zwar über einen Bereich, der für das jeweilige Geschlecht typisch ist (auch bei Frauen sind männliche Hormone vorhanden, wenn auch nur in sehr geringer Menge); und als Valerie Shute jede Geschlechtergruppe weiter in Untergruppen mit hohem und niedrigem Androgenspiegel einteilte, fand sie, dass Frauen mit hohem Androgenspiegel bei räumlichen Tests besser abschnitten als solche mit niedrigem. Aber bei den Männern galt das Umgekehrte: Solche mit niedrigem Androgenspiegel zeigten bessere Leistungen.

Catherine Gouchie und ich führten kürzlich eine ähnliche Untersuchung durch. Wir bestimmten den Testosterongehalt im Speichel und testeten nicht nur das räumliche Vorstellungsvermögen, sondern auch das mathematische Schlussfolgern und die Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Unsere Ergebnisse bei den räumlichen Tests ähnelten denen von Valerie Shute: Männer mit wenig Testosteron waren ihren Geschlechtsgenossen mit viel Testosteron überlegen, während bei den Frauen mehr Testosteron mit besseren Leistungen korreliert war. Solche Befunde lassen vermuten, dass es sozusagen einen optimalen Androgenspiegel gibt, bei dem das räumliche Vorstellungsvermögen am besten ist; er müsste dann etwa im unteren Teil des für Männer typischen Streubereichs liegen.

Keine Korrelation konnten wir zwischen dem Testosteronspiegel und der getesteten Wahrnehmungsgeschwindigkeit finden. Für das mathematische Schlussfolgern war bei den Männern der Befund hingegen ähnlich wie der bei den Tests zum räumlichen Vorstellungsvermögen: Diejenigen mit wenig Androgen erreichten höhere Testwerte als solche mit viel Testosteron; bei den Frauen indes war keine Korrelation erkennbar.

Diese Resultate sind mit der Hypothese von Camilla P. Benbow von der Staatsuniversität von Iowa in Ames vereinbar, wonach die mathematische Begabung in hohem Maße von einer biologischen Determinante abhängt. Sie und ihre Kollegen haben eine deutliche Überlegenheit der männlichen Versuchspersonen beim mathematischen Schlussfolgern festgestellt - und zwar im oberen Bereich der Streubreite besonders ausgeprägt, wo Männer und Frauen im Verhältnis 13:1 vertreten sind. Camilla Benbow meint, diese Geschlechtsunterschiede seien nicht leicht durch soziale Effekte erklärbar.

Man muss beachten, dass es sich bei der Beziehung zwischen natürlichem Hormonspiegel und Problemlöseverhalten um eine Korrelation von Messdaten handelt. Irgendwie ist beides verknüpft, aber welche Faktoren dafür bestimmend sind oder was die Ursache sein könnte, ist nicht bekannt. Noch wissen wir zu wenig über die Beziehung zwischen dem Hormonspiegel beim Erwachsenen und dem in den frühen Entwicklungsphasen, in denen offensichtlich die Voraussetzungen für spezifische Fähigkeiten im Nervensystem organisiert werden. Es gilt noch viel herauszufinden über die genauen Mechanismen, die den spezifischen kognitiven Leistungen beim Menschen zugrunde liegen.

Befunde an Hirngeschädigten

Ein anderer Ansatz, Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen aufzuspüren, ist, die Arbeitsweise bestimmter Hirnstrukturen zu prüfen und zu vergleichen. Dies ist ohne Eingriffe möglich, wenn eine spezifische Gehirnregion geschädigt ist. Derartige Untersuchungen weisen darauf hin, dass bei den meisten Menschen die linke Hirnhälfte für die Sprache wesentlich ist und die rechte für bestimmte wahrnehmungs- und raumbezogene Funktionen.

Viele Forscher, die Geschlechtsunterschiede untersuchen, nehmen an, dass die beiden Hirnhälften bei Männern für Sprache und räumliches Vorstellungsvermögen stärker asymmetrisch organisiert seien als bei Frauen. Für diese funktionelle Asymmetrie gibt es mehrere Hinweise. Teile des Balkens (Corpus callosum), des größten Nervenfaserbündels, das die beiden Hemisphären verbindet, können bei Frauen ausgedehnter sein; Wahrnehmungsfunktionen, anhand derer man Hirnasymmetrien bei Personen mit ge-sundem Gehirn untersuchen kann, sind mitunter bei Frauen in geringerem Maße auf eine Hemisphäre beschränkt, und Verletzungen einer Hirnhälfte haben bei ihnen manchmal geringere Auswirkungen als vergleichbare Schädigungen bei Männern.

Aphasien (Sprachstörungen bei der Wortwahl etwa) treten bei Frauen am häufigsten auf, wenn vordere Teile des Gehirns verletzt sind. Bei Männern sind sie häufiger bei Läsionen der hinteren Bereiche (links).

Apraxien (Schwierigkeiten, angemessene Handbewegungen zu wählen) werden bei Frauen hauptsächlich bei Schädigungen der vorderen linken Hirnhälfte hervorgerufen und bei Männern bei solchen der hinteren Regionen (rechts). Sie gehen zudem mit Sprachstörungen einher.

Im Jahre 1982 berichteten Marie Christine de Lacoste, die jetzt an der Medizinischen Fakultät der Yale Universität in New Haven (Connecticut) arbeitet, und Ralph L. Holloway von der Columbia Universität in New York, dass das hintere Drittel des Balkens - das Splenium, das visuelle Information zwischen den Hirnhälften überträgt - bei Frauen größer sei als bei Männern. Dieser Befund ist in der Folge sowohl bestritten als auch bestätigt worden. Formveränderungen des Balkens, die während der Alterung eines Individuums auftreten können, wie auch unterschiedliche Messverfahren mögen zu dem Dissens beigetragen haben. Erst kürzlich fanden aber auch Allen und Gorski den gleichen geschlechterbezogenen Größenunterschied beim Splenium.
Das Interesse am Balken erklärt sich aus der Vermutung, seine Größe könnte die Anzahl der Nervenfasern anzeigen, die beide Hirnhälften verbinden. Wären bei einem Geschlecht mehr davon vorhanden, müsste man nämlich daraus schließen, dass die beiden Hemisphären eingehender miteinander kommunizierten. Und von Ratten ist zudem bekannt, dass Sexualhormone die Größe des Balkens verändern können; dies haben Victor H. Denenberg und seine Mitarbeiter von der Universität von Connecticut in Storrs ermittelt. Indes ist noch nicht geklärt, ob die tatsächliche Anzahl an Fasern bei den Ge-schlechtern differiert. Des weiteren bleibt die mögliche Beziehung zwischen kognitiven Geschlechtsunterschieden und der Größe des Balkens zu prüfen. Neue Verfahren zur bildlichen Darstellung des Gehirns beim lebenden Menschen werden sicherlich weiterhelfen.

Die Auffassung, das männliche Gehirn weise eine größere funktionelle Asymmetrie auf als das weibliche, hat eine lange Tradition. Albert Galaburda vom Beth Israel Hospital in Boston (Massachusetts) und Norman Geschwind von der medizinischen Fakultät der Harvard Universität im benachbarten Cambridge hatten vermutet, dass Androgene das funktionelle Vermögen der rechten Hemisphäre steigerten. Tatsächlich fand im Jahre 1981 Marian C. Diamond von der Universität von Kalifornien in Berkeley, dass bei männlichen Ratten die rechte Hirnrinde (der rechte Cortex) dicker ist als die linke, nicht aber bei Weibchen. Jane Stewart von der Concordia Universität in Montreal (Kanada) bestimmte kürzlich in Zusammenarbeit mit Bryan E. Kolb von der Universität Lethbridge (Kanada) die hormonalen Einflüsse auf diese Asymmetrie in der frühen Entwicklungs-phase genau: Androgene scheinen demnach das Wachstum der linken Hirnrinde zu hemmen.

1991 legten Marie Christine de Lacoste und ihre Kollegen einen ähnlichen Befund an menschlichen Feten vor: Bei männlichen war die rechte Hirnrinde größer als die linke. Mithin scheint es durchaus einige anatomische Belege für die Annahme zu geben, dass die beiden Hemisphären bei Männern und Frauen nicht gleichermaßen asymmetrisch sind.

Die Indizien sind allerdings noch dürftig und widersprüchlich - was nahelegt, dass die auffälligsten Geschlechtsunterschiede in der Gehirnorganisation vielleicht gar nicht mit der funktionellen Asymmetrie zusammenhängen.

Falls beispielsweise die Gesamtunterschiede in der Raumwahrnehmung zwischen Männern und Frauen auf der unterschiedlichen Abhängigkeit dieser Funktionen von der rechten Gehirnhälfte beruhten, müsste eine Verletzung eben dieser Hemisphäre bei Männern das räumliche Vorstellungsvermögen stärker beeinträchtigen. Dies haben wir kürzlich mit Tests zur mentalen Rotation untersucht. Bei einem dieser Tests ließen wir einseitig Hirnverletzte an Strichzeichnungen eines Handschuhs in verschiedenen Orientierungen entscheiden, ob ein rechter oder ein linker dargestellt war, indem sie einfach auf einen von zwei ausgestopften Handschuhen deuteten, die vor ihnen lagen. Beim zweiten Test legten wir ihnen zwei dreidimensionale, zueinander spiegelbildliche Körper vor und ließen sie Photographien dieser Körper in verschiedener Lage dem realen Gebilde zuordnen. (Mit solchen nicht verbalen Antwortverfahren lassen sich auch Patienten mit Sprachstörungen testen.)
Wie erwartet, ergaben sich bei Probanden beiderlei Geschlechts infolge einer Verletzung der rechten Hemisphäre niedrigere Testwerte als infolge einer vergleichbaren Verletzung der linken. Wie ebenfalls angenommen, schnitten Frauen beim Test der mentalen Rotation dreidimensionaler Körper schlechter ab als Männer. Überraschenderweise hatte jedoch die Verletzung der rechten Gehirnhälfte bei Männern keine größere Auswirkung als bei Frauen - letztere waren dadurch mindestens ebenso beeinträchtigt.

Dieser Befund lässt vermuten, dass die üblichen geschlechtsspezifischen Unterschiede bei derartigen Tests nicht eine Folge unterschiedlicher Dominanz der rechten Hemisphäre sind; die besseren Leistungen der Männer müssen folglich durch ein anderes Teilsystem des Gehirns vermittelt sein.

Entsprechende Annahmen über eine größere funktionelle Asymmetrie bei Männern hinsichtlich sprachlicher Fähigkeiten beruhten auf der Beobachtung, dass bei ihnen Sprachstörungen (Aphasien) nach Verletzungen der linken Hemisphäre häufiger auftreten als bei Frauen. Deshalb meinten einige Forscher folgern zu dürfen, Sprache sei bei Frauen stärker beidseitig organisiert. Allerdings ist diese Schlussfolgerung problematisch - während meines zwanzigjährigen Umgangs mit Patienten traten Aphasien bei Frauen mit Verletzungen der rechten Hirnhälfte nicht unverhältnismäßig häufiger oder seltener auf.

Sprach- und Bewegungsstörungen

Bei der Suche nach einer Erklärung entdeckte ich einen weiteren eindrucksvollen ge-schlechtsspezifischen Unterschied in der Hirnorganisation für sprachliche und damit verknüpfte motorische Funktionen: Frauen leiden eher als Männer unter Aphasie, wenn der vordere Bereich des Gehirns verletzt worden ist. Da örtlich begrenzte Schädigungen innerhalb einer Hemisphäre bei beiden Geschlechtern zumeist im hinteren Bereich des Gehirns liegen, könnte dieser Sachverhalt erklären, warum Frauen insgesamt seltener von Aphasie betroffen sind. Sprachfunktionen sind demnach bei Frauen nicht deshalb mit geringerer Wahrscheinlichkeit betroffen, weil die sprachlichen Fähigkeiten bei ihnen eher gleichmäßig in beiden Hirnhälften repräsentiert wären, sondern weil die dafür kritische Region seltener verletzt wird.

Ähnliches zeigt sich in Untersuchungen von willentlichen Handbewegungen, die von der linken Hemisphäre gesteuert werden. Apraxie - die Störung, gewisse erlernte oder zweckgerichtete Bewegungen der Hände auszuführen - tritt sehr häufig nach Verletzungen der linken Hemisphäre auf. Sie ist auch eng mit Sprachproblemen verbunden. Nun beziehen sich die von der linken Gehirnhälfte abhängigen kritischen Funktionen möglicherweise nicht auf die Organisation von Sprache an sich, sondern vielmehr auf diejenige der komplexen oralen und manuellen Bewegungen, auf denen die menschliche Kommunikation beruht. Untersuchungen an Patienten mit Verletzungen der linken Ge-hirnhälfte haben gezeigt, dass diese Bewegungswahl bei Frauen eher mit vorderen Arealen zu tun hat, bei Männern hingegen eher mit hinteren.

Die Nachbarschaft des Motorikwahlsystems zur unmittelbar dahinter liegenden motorischen Rinde mag bei Frauen feinmotorische Fertigkeiten begünstigen. Im Gegensatz dazu scheinen die motorischen Fertigkeiten bei Männern Zielbewegungen in die Ferne - von sich selbst weg - zu betonen. Es könnte dafür vorteilhaft sein, dass die zuständigen Rindenregionen eng mit den visuellen Arealen vernetzt sind, die im hinteren Bereich des Gehirns liegen.

Die stärkere Abhängigkeit der Frauen von den vorderen Hirnarealen ist selbst dann erkennbar, wenn Tests eine visuelle Kontrolle erfordern - zum Beispiel, wenn die Versuchspersonen ein zu betrachtendes Modell mit Bauklötzen nachbauen sollen. Über eine solche komplexe Aufgabe wird es möglich, die Auswirkungen von Läsionen der vorderen und hinteren Gebiete beider Hemisphären zu vergleichen, da die Leistungen sowohl durch Verletzungen der einen wie der anderen Hirnhälfte beeinträchtigt werden. Wiederum sind Frauen durch Verletzungen vorderer Regionen der rechten Hemisphäre stärker beeinträchtigt als durch solche der hinteren. Bei Männern ist es im allgemeinen umgekehrt.

Wenngleich ich keine Anzeichen für Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Asymmetrie der beiden Hirnhälften hinsichtlich grundlegender Sprachfähigkeiten, motorischer Wahl oder mentaler Rotation finden konnte, gab es doch geringe Divergenzen bei abstrakteren verbalen Aufgaben. Die Leistungen in einem Wortschatztest beispielsweise waren bei Frauen durch Verletzungen jeder Hemisphäre beeinträchtigt, bei Männern hingegen nur durch linksseitige Schädigungen. Dieser Befund legt nahe, dass Frauen beim Nachdenken über Wortbedeutungen die Hemisphären gleichmäßiger nutzen als Männer.

Im Gegensatz hierzu ist die Nicht-Rechtshändigkeit, die vermutlich mit einer geringeren Dominanz der linken Gehirnhälfte zu tun hat, bei Männern häufiger. Selbst unter Rechtshändern, berichtete Marion Annett, sind Frauen quasi noch rechtshändiger -bevorzugen also ihre rechte Hand noch mehr - als Männer. Es kann folglich sehr wohl sein, dass Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Asymmetrie des Gehirns mit der speziellen untersuchten Funktion variieren und dass nicht immer das gleiche Geschlecht die stärkere Asymmetrie aufweist.

Evolutionäre Grundlage der Geschlechtsunterschiede

Alles in allem weisen die Befunde aus verschiedenen Untersuchungen darauf hin, dass die Gehirne von Männern und Frauen bereits von einer sehr frühen Entwicklungsphase an nach unterschiedlichen Prinzipien organisiert sind. Im Laufe der Entwicklung steuern Sexualhormone eine solche geschlechtsspezifische Differenzierung. Ähnliche Mechanismen sind vermutlich auch bei der Herausbildung von Unterschieden innerhalb der Geschlechter wirksam, da es eine Beziehung zwischen der Konzentration bestimmter Hormone und den kognitiven Leistungen im Erwachsenalter gibt.

Eine der faszinierendsten Erkenntnisse ist, dass kognitive Leistungen während des gesamten Lebens hormonalen Schwankungen gegenüber empfindlich bleiben können. Elizabeth Hampson hat gezeigt, dass sich die Leistung von Frauen bei bestimmten Aufgaben während des Menstruationszyklus mit dem Steigen und Fallen des Östrogenspiegels ändert. Hohe Hormonkonzentrationen waren nicht nur mit ver-gleichsweise verringertem räumlichem Vorstellungsvermögen, sondern auch mit gesteigerter sprachlicher Ausdrucksfähigkeit und motorischer Behendigkeit verbunden.

Des weiteren habe ich bei Männern jahreszeitliche Schwankungen der raumbezogenen Fähigkeiten beobachtet. Ihre Leistungen sind im Frühjahr verbessert, wenn der Testosteronspiegel niedriger ist. Ob diese kognitiven Fluktuationen auf eine bedeutsame Anpassungsfähigkeit hinweisen oder nur Schwankungen über einem stabilen Basisniveau darstellen, bleibt herauszufinden.

Um die kognitiven Leistungen des Homo sapiens als Individuum und Leistungsdivergenzen zwischen dem weiblichen und dem männlichen Teil der Menschheit verstehen zu können, dürfen wir sie freilich nicht nur unter heutigen Lebensumständen beurteilen. Offenbar sind die Geschlechtsunterschiede bei kognitiven Fähigkeiten deshalb entstanden, weil sie sich im Laufe der Evolution als vorteilhaft erwiesen haben, und nicht, um lesen lernen oder Computer bedienen zu können. Ihr Anpassungswert liegt wohl in der fernen Vergangenheit begründet. Die Organisation des menschlichen Gehirns hat sich über sehr viele Generationen durch natürliche Auslese herausgebildet; Untersuchungen an fossilen Schädeln zufolge ähneln die Gehirne heutiger Menschen im wesentlichen denen unserer Vorfahren, die vor 50 000 oder noch mehr Jahren gelebt haben.

Die meiste Zeit seiner Entwicklung über lebte der Mensch in vergleichsweise kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern. Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern war in einer solchen Gesellung vermutlich recht ausgeprägt, wie dies auch bei noch bestehenden Jäger-Sammler-Kulturen der Fall ist. Die Männer gingen auf die Großwildjagd, wobei sie oft weite Strecken zurücklegen mussten.

Zudem waren sie für die Verteidigung der Gruppe gegen Raubtiere und feindliche Artgenossen verantwortlich sowie für die Herstellung und den Gebrauch von Werkzeugen und Waffen. Die Frauen sammelten wohl Nahrung in der näheren Umgebung, versorgten das Lager, bereiteten die Nahrung, fertigten Kleidung an und kümmerten sich um den Nachwuchs.

Derartige Spezialisierungen erzeugten gewiss einen unterschiedlichen Selektionsdruck. Die Männer waren auf Fähigkeiten angewiesen, sich über große Entfernungen zu orientieren und (Rück-) Wege zu finden, um ein Terrain aus verschiedenen Richtungen wieder zu erkennen; und sie mussten gut zielen können, um genügend Tiere zu erlegen. Wichtig für die Frauen waren eine Nahbereichsorientierung - vielleicht mit Hilfe markanter Punkte - und feinmotorische Fertigkeiten, die in einem eng umschriebenen Raum angewendet wurden, sowie die differenzierte Wahrnehmung geringfügiger Veränderungen in der Um-welt oder in der Erscheinung und dem Verhalten der Kinder.

Das Bestehen konsistenter und - in einigen Fällen - recht beträchtlicher Geschlechtsunterschiede legt nahe, dass Männer und Frauen unabhängig von gesellschaftlichen Einflüssen unterschiedliche Interessen an Beschäftigungen und Befähigungen dafür haben können. Ich würde beispielsweise nicht erwarten, dass beide Geschlechter unbedingt gleichermaßen in Tätigkeiten oder Berufen repräsentiert sind, bei denen es auf räumliches Orientierungsvermögen oder auf mathematische Fähigkeiten ankommt wie bei den Ingenieurwissenschaften oder der Physik. Doch würde ich mehr Frauen in der medizinischen Diagnostik erwarten, wo Wahrnehmungsfähigkeiten wichtig sind. Selbst wenn also jedes Individuum die Befähigung haben mag, sich in einem für sein Geschlecht eher untypischen Gebiet zu bewähren, werden viele Tätigkeitsfelder wohl nie von den Geschlechtern paritätisch besetzt werden.

Quelle (Text und Bilder):
Spektrum der Wissenschaft 11/1992, Seite 104:
Doreen Kimura: "Weibliches und männliches Gehirn"
(gekürzt von Rudolf Öller)

 

Sex Differences in the Brain:

The Relation between Structure and Function. Herausgegeben von G. J. DeVries, J. P. C. DeBruin, H. B. M. Uylings und M.A. Corner in: Progress in Brain Research, Band 61. Elsevier, 1984.

Masculinity/Femininity.

Herausgegeben von J. M. Reinisch, L. A. Rosenblum und S. A. Sanders. Oxford University Press, 1987.

Behavioral Endocrinology.

Herausgegeben von Jill B. Becker, S. Marc Breedlove und David Crews. The MIT Press/Bradford Books, 1992.

Hormone.

Die chemischen Boten des Körpers. Von Lawrence Crapo. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft, Heidelberg 1986.

Linkes - rechtes Gehirn:

Funktionelle Asymmetrien. Von Sally P. Springer und Georg Deutsch. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft, Heidelberg 1987.

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