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EVOLUTION

Charles vor Gericht

Einführung in die Evolutionstheorie (von Ernst Mayr)

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Die revolutionäre Vorstellung von der Veränderbarkeit der Welt, ihrer Lebewesen und ihrer selbst, erfasste den Menschen im 18. Jahrhundert. Es ging um das Vordringen der Idee, dass Veränderung überhaupt möglich sei, wenn auch in langen Zeiträumen, mit einem Wort, um den Begriff der Evolution. Unser heutiges Weltverständnis wird von der Kenntnis bestimmt, dass das Universum, die Sterne, die Erde und alle lebendigen Dinge eine lange Vorgeschichte haben, in der nichts vorbestimmt oder programmiert war, eine Geschichte langsamer, kontinuierlicher Veränderung, die nach physikalischen Gesetzen in mehr oder weniger richtungsbestimmten natürlichen Prozessen verlief. Das gilt für die Evolution des Kosmos ebenso wie für die Evolution des Lebendigen.

Dennoch unterscheidet sich die biologische Evolution auf vielerlei Weise grundsätzlich von der kosmischen. Zum einen läuft sie wesentlich komplizierter ab, und zum anderen führt sie zu lebenden Systemen, die jedes unbelebte System an Komplexität weit übertreffen.

Dieses Buch aus Beiträgen, die für SCIENTIFIC AMERICAN zum Thema Evolution geschrieben worden sind, handelt von den Anfängen, der Geschichte und den Wechselbeziehungen lebender Systeme, so wie sie im Licht der inzwischen allgemein akzeptierten Theorie über den Ursprung des Lebens verstanden werden: der Theorie der Evolution durch natürliche Selektion, wie sie vor mehr als hundert Jahren von Charles Darwin vorgetragen worden ist und seither von der wissenschaftlichen Genetik modifiziert und weiterentwickelt wurde. Sie gilt heute als das wichtigste Organisationsprinzip der Biologie.

Den Schöpfungsmythen, die uns bei primitiven Völkern und in den meisten Religionen begegnen, liegt grundsätzlich die statische Auffassung einer Welt zugrunde, die sich, sobald der Schöpfungsakt abgeschlossen ist, nicht mehr weiterentwickelt, einer Welt, die überhaupt erst seit kurzem existiert. Die berühmte Rechnung von Bischof Ussher, der im 17. Jahrhundert zu dem Ergebnis kam, die Welt sei im Jahre 4004 vor Christus erschaffen worden, ist für uns eher wegen ihrer falschen Präzision interessant als für ihren falschen Ansatz. Die Rechnung stammt aus einer Zeit, in der jeder Griff in die Geschichte von Traditionen und schriftlichen Überlieferungen verkürzt wurde. Erst die Naturforscher und Philosophen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und die Geologen und Biologen des 19. Jahrhunderts konnten die Zeitachse verlängern. 1749 machte der französische Naturforscher Compte de Buffon den ersten Versuch, das Alter der Erde zu berechnen, und kam auf wenigstens 70 000 Jahre. In seinen unpublizierten Notizen hatte er 500 000 Jahre vermerkt.

Immanuel Kant ging gedanklich in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 so weit, dass er von Millionen oder sogar Hunderten von Millionen Jahren schrieb. Ganz offensichtlich hatten sich Buffon und Kant ein Universum vorgestellt, das seine Gestalt einer Evolution verdankte.

Der Begriff "Evolution" beinhaltet eine kontinuierliche, meist auch gerichtete Veränderung. Die biologische Evolution lässt sich am besten als Veränderung der Mannigfaltigkeit von Organismenpopulationen und als Veränderung ihrer Anpassung erklären.

Die erste widerspruchsfreie Evolutionstheorie wurde 1809 von dem französischen Naturforscher und Philosophen Jean Baptiste de Lamarck aufgestellt. Er befasst sich darin mit dem Prozess der historischen Veränderung, mit dem, was für ihn ein Fortschreiten der Natur vorn kleinsten sichtbaren Organismus zu den komplexesten und nahezu vollkommenen Pflanzen und Tieren und damit zum Menschen war.

Um den Ablauf der Evolution im einzelnen zu erklären, benutzte Lamarck vier Prinzipien: die Existenz eines in jedem Organismus vorhandenen Drangs zur Vollkommenheit; die Fähigkeit der Organismen, sich gewissen "Umständen", heute Umwelt genannt, anzupassen. Das häufige Auftreten spontaner Schöpfungen und die Erblichkeit erworbener Eigenschaften oder Merkmale. Sein Glaube an die Erblichkeit erworbener Eigenschaften - der Irrtum, an den man bei Lamarck vor allem denkt - war zu dieser Zeit Allgemeingut, eine Idee, die fest in Volksmärchen verankert war, und von der die Bibelgeschichte von Jakob und der Teilung der gefleckten und der schwarzen Lämmer nur ein Ausdruck ist. Dieser Glaube bestand lange weiter. Auch Darwin hatte angenommen, dass der Gebrauch oder Nichtgebrauch eines Organs durch eine Generation sich in der nächsten widerspiegeln würde, und so dachten die meisten Evolutionisten, bis der deutsche Biologe August Weismann am Ende des Jahrhunderts auf die Unmöglichkeit oder doch wenigstens die Unwahrscheinlichkeit hinwies, dass erworbene Eigenschaften vererbt werden. Auch Lamarcks "Drang zur Perfektion" und das Auftreten häufiger Spontanschöpfungen stellten sich als unhaltbar heraus. Bestätigt wurde seine Annahme, dass Evolution vor allem das ist, was wir heute adaptiv nennen. Darüber hinaus hatte er erkannt, dass man die Verschiedenheit der zahlreichen Lebewesen nur erklären konnte, wenn man ein hohes Alter der Erde voraussetzte und die Evolution als langsamen Vorgang verstand.

Lamarck beschäftigte sich vor allem mit dem zeitlichen Ablauf der Evolution, mit ihrer vertikalen Komponente. Darwin hingegen war zunächst vom Problem der Vielfalt der Arten fasziniert, von einem Ursprung durch Differenzierung in der geographischen Verbreitung, kurz von der horizontalen Komponente der Evolution. Sein Interesse an der Veränderung und Spezialisierung von Pflanzen und Tieren wurde bekanntlich auf seiner fünfjährigen Weltreise als Naturforscher, zu der er 1831 mit der Beagle aufgebrochen war, geweckt. Auf den Galapagosinseln sah er, dass jede Insel ihre eigenen Schildkröten, Spottdrosseln und Finken beherbergte. Die Formen waren eng miteinander verwandt und doch deutlich unterschieden. Wieder in England, grübelte er lange über seinen Beobachtungen und kam zu dem Schluss, dass jede einzelne Inselpopulation den Beginn einer selbständigen Spezies darstellte. Das brachte ihn auf die Vorstellung der "Umwandlung" (Transmutation) oder Evolution der Arten. 1838 fand er dafür die treibende Kraft: die natürliche Auslese oder Selektion. Erst nach zwanzig weiteren Jahren des Beobachtens und Experimentierens, nach der Lektüre aller wichtigen Literatur der Geologie, Zoologie und verwandter Gebiete, trat er 1858 mit einem Bericht vor der Londoner Linnean Society an die Öffentlichkeit. Unabhängig von Darwin hatte auch Alfred Russell Wallace, ein junger englischer Naturforscher in Indien, die Vorstellung von einer natürlichen Selektion entwickelt. Er hatte dazu ein Manuskript verfasst und an Darwin geschickt. Seine Arbeit wurde zusammen mit der Darwins auf der selben Veranstaltung vorgetragen.

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Ein Jahr später, am 24. November 1859, publizierte Darwin seine Überlegungen im Zusammenhang: On the Origin of Species (deutsche Übersetzung 1860: Über die Entstehung der Arten). Die theoretischen Ausführungen waren sorgfältig begründet und mit einer Fülle von persönlichen Beobachtungen untermauert. In der ausführlichen Begründung verwendete Darwin eine Reihe von Postulaten, von denen ich die vier, die ich für die wichtigsten halte, hier herausgreifen möchte. Zwei stimmten mit Lamarcks Vorstellungen überein. Erstens das Postulat, dass die Welt sich nicht statisch verhält, sondern in ständiger Entwicklung begriffen ist. Die Arten verändern sich unaufhörlich, neue Arten entstehen, andere sterben aus. Lebensbedingungen ändern sich mit der Zeit, wie von den Fossilien belegt wird. Je älter sie sind, um so mehr scheinen sie sich von den zeitgenössischen Lebewesen zu unterscheiden. Wohin man in der lebenden Natur auch blickt, überall trifft man auf Erscheinungen, die keinen Sinn ergeben, wenn man sie nicht durch die Brille der Evolution betrachtet. Zweitens übernahm Darwin das Lamarcksche Postulat vom langsamen und kontinuierlichen Ablauf der Evolution, vom Fehlen zusammenhangloser Sprünge oder plötzlicher Änderungen.

Die zwei anderen Postulate Darwins enthielten neue Konzeptionen. Eines war das Postulat des gemeinsamen Ursprungs. Für Lamarck besaß noch jeder Organismus oder jede Gruppe von Organismen eine eigenständige Entwicklungslinie, die mit einer spontanen Entstehung begonnen hatte und sich auf dem Weg zur Vollkommenheit befand. Dem setzte Darwin entgegen, dass einander ähnliche Organismen miteinander verwandt sind und von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Alle Säugetiere seien aus einer einzigen Urart hervorgegangen; alle Insekten besäßen einen gemeinsamen Vorfahr, und alle anderen Gruppen von Lebewesen ebenfalls. Er hielt es für denkbar, dass alles Lebendige auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden könne.

Darwin hatte auch den Menschen von der gemeinsamen Abstammung aller Säugetiere nicht ausgeschlossen und entfachte damit einen Sturm der Entrüstung. Sein Gedanke wurde als unverzeihliche Beleidigung der menschlichen Rasse betrachtet. Trotzdem besaß die Vorstellung von einer einheitlichen Abstammung eine derartige Faszination, dass sie von den meisten Biologen ohne Zögern aufgegriffen wurde. Sie lieferte nicht nur den Schlüssel zur Linnéschen Hierarchie taxonomischer Begriffe, sondern gab auch den vergleichenden Anatomen eine Erklärung für ihre Beobachtung, dass alle Lebewesen einer relativ begrenzten Zahl morphologischer Typen zuzuordnen sind.

Darwins viertes Postulat gilt der natürlichen Auslese, der Selektion. Erst die Vorstellung von der Selektion öffnet den Zugang zu seinem verzweigten Gedankengebäude. Veränderungen, sagte Darwin, seien in der Evolution nicht das Resultat eines mysteriösen Lamarckschen Dranges, und sie seien auch nicht Früchte des Zufalls, sondern das Produkt einer Selektion.

Der Vorgang der Selektion besitzt zwei Stufen. In der ersten Stufe entsteht eine genetische Variation. Jede Generation erzeugt Variationen in riesiger Menge. Ihren Ursprung kannte Darwin noch nicht. Ihn zu finden, blieb der wissenschaftlichen Genetik vorbehalten. Darwin stand lediglich seine empirische Kenntnis zu Verfügung, dass es innerhalb jeder Art ein anscheinend unerschöpfliches Reservoir kleiner und großer Unterschiede gibt. Die zweite Stufe zur Selektion heißt Überleben im Existenzkampf. Bei den meisten Pflanzen und Tieren produziert ein Elternpaar Tausende, wenn nicht Millionen von Nachkommen. Darwin wusste schon aus dem Studium der Schriften von Thomas Malthus (Essay on the principles of population, 1798), dass nur die wenigsten dieser Nachkommen überleben. Welche hätten dabei die beste Chance? Zweifellos diejenigen, denen die geeignetste Kombination von Eigenschaften zugefallen ist, um mit der Umwelt fertig zu werden. Unter Umwelt sind dabei Klima, Konkurrenten und Feinde zu verstehen. Wer überlebt, hätte die größte Chance, sich zu reproduzieren und lebende Nachkommen zu hinterlassen, deren Eigenschaften wiederum für den nächsten Selektionszyklus bereitstünden.

Die Vorstellung einer veränderlichen Welt im Gegensatz zu einer unveränderlichen, statischen wurde von fast allen ernstzunehmenden Wissenschaftlern rund um die Welt akzeptiert, lange vor Darwins Tod im Jahre 1882. Und wer sich zur Evolution bekannte, übernahm auch die These vom gemeinsamen Ursprung aller Lebewesen. Trotzdem gab es eine Gruppe von Wissenschaftlern, die darauf bestand, den Menschen von der gemeinsamen Entwicklung auszuschließen. Dagegen wurde den beiden anderen Postulaten Darwins von vielen fähigen und gelehrten Köpfen erbitterter Widerstand entgegengesetzt, bis in die Vierziger Jahre unseres Jahrhunderts.

Eines der beiden Postulate handelt von der schrittweisen Veränderung. Selbst ein so glühender Anhänger Darwins wie T. H. Huxley, wegen seines bedingungslosen Eintretens für die meisten Aspekte der neuen Theorie "Darwins Bulldogge" genannt, wollte sich mit der graduellen Entstehung höherer Lebewesen und neuer Arten nicht anfreunden. Er stellte sich statt dessen sprunghafte Veränderungen vor. Auch ein Biologe wie Hugo De Vries, der die Vererbungslehre Gregor Mendels wiederentdeckt hatte, war ein Verfechter von Entwicklungssprüngen, Saltationen. 1901 trat er mit einer Theorie an die Öffentlichkeit, nach der neue Arten durch Mutation entstehen. Bis 1940 verteidigte der große Genetiker Richard B. G. Goldschmidt seine "System-Mutationen" als Ursprung neuer, höherentwickelter Typen.

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Es waren drei Entwicklungen, die schließlich zur Abkehr von den Sprungtheorien führten. Langsam gewann eine neue Einstellung zur physischen Welt an Boden. Seit Plato war das herrschende Weltbild von dem geprägt, was Karl Popper "Essentialismus" genannt hat: die Welt besteht aus einer begrenzten Anzahl invariabler Essentia (Platons eidoi) und die veränderlichen Erscheinungen der sichtbaren Welt seien lediglich unvollständige und ungenaue Spiegelbilder davon. In einem solchen Weltbild konnte sich ein echter Wandel nur durch Schöpfung oder einen spontanen Sprung, eine Mutation, vollziehen. Anders als in der Biologie bestehen die Klassen physikalischer Objekte in der Tat aus identischen Einheiten, und unter idealen Bedingungen sind alle physikalischen Konstanten unveränderlich. Im 19. Jahrhundert gab es keine Konflikte zwischen Mathematik oder Physik und der Philosophie des Essentialismus.

Für die Erklärung des Lebens ist eine andere Philosophie vonnöten. Jedes Lebewesen ist einmalig. Populationen von Lebewesen bestehen aus nicht-identischen Individuen. Bei der Betrachtung von Populationen bleiben die Mittelwerte ihrer Eigenschaften abstrakt. Nur das einzelne Individuum ist real. Die Bedeutung einer Population liegt darin, dass sie eine Summe von Varianten repräsentiert, in der Sprache der Genetiker einen Genpool. Erst das Denken in Populationen lässt den Prozess einer schrittweisen Evolution plausibel erscheinen, der heute alle Gesichtspunkte der Evolutionstheorie beherrscht.

Die sprunghafte Mutation konnte noch aus einem anderen Grund verworfen werden. Man entdeckte eine immense Variabilität innerhalb natürlicher Populationen, und die Erkenntnis brach sich Bahn, dass eine hohe Variabilität einzelner genetischer Faktoren sich in einer kontinuierlichen Veränderung des Organismus ausdrücken kann, vorausgesetzt, sie sind zahlreich genug und die Differenzen zwischen ihnen sind gering. Und noch eine dritte Erkenntnis brach sich Bahn. Die Naturwissenschaftler konnten beweisen, dass es durchaus möglich ist, den Ursprung offensichtlicher Diskontinuitäten wie neuen Arten oder neuen Typen oder Innovationen wie Vogelflügel oder Lunge durch den Prozess einer schrittweisen Evolution zu erklären.

Zu den Darwinschen Vorstellungen, denen der längste Widerstand entgegengesetzt wurde, gehört neben der Evolution in kleinen Schritten die These von der natürlichen Selektion. Sie wurde zunächst deshalb von den meisten verworfen, weil sie gegen das deterministische Denken der Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts verstieß. Selektion war nicht vorhersagbar. Aber wie konnte ein "Naturgesetz", als das die Evolution betrachtet wurde, ausschließlich eine Sache des Zufalls sein? Von einigen wurde der Vorwurf des "krassen Materialismus" erhoben. Natürlich untergrub die Behauptung, die Harmonie in der Welt des Lebendigen sei nichts anderes als das Zufallsergebnis einer natürlichen Auslese, das Weltbild der Naturtheologen. Ihre These, dass sich die Existenz des Schöpfers aus der Schönheit und Zweckmäßigkeit seiner Werke ableiten lasse, war in Gefahr. Die Ablehnung einer natürlichen Selektion aus religiösen oder philosophischen Gründen oder einfach, weil es sich um einen Prozess handelte, der viel zu sehr dem Zufall ausgesetzt sei, führte dazu, dass jahrelang alternative Schemata mit Namen wie Orthogenese, Nomogenese, Aristogenese angeboten wurden, um die Evolution zu erklären, einschließlich Teilhard de Chardins "Omega-Prinzip". Allen diesen Schemata war gemeinsam, dass sie sich auf eine naturgegebene Tendenz oder einen Drang zur Vollkommenheit, einen zielgerichteten Fortschritt beriefen und eine kosmische Teleologie der Zweckmäßigkeit postulierten.

Doch keinem Anhänger einer teleologischen Theorie ist es trotz aller Anstrengungen je gelungen, auch nur einen einzigen Vorgang zu beschreiben (übernatürliche ausgeschlossen), der die Teleologie untermauert. Inzwischen hat die Mikrobiologie auch die letzte Wahrscheinlichkeit ausgeräumt, dass es irgendeinen derartigen Mechanismus geben könnte. Der verstorbene Jacques Monod betonte immer wieder ausdrücklich: Das genetische Material bleibt sich gleich; nur eine Mutation kann es verändern. Auch die Fossilfunde der Paläontologen beweisen die Unhaltbarkeit teleologischer Theorien. George Gaylord Simpson hat uns das besonders deutlich gezeigt. Wenn man den evolutionären Trend irgendeiner Eigenschaft, nehmen wir einen Trend zur Steigerung der Körpergröße oder zu längeren Zähnen, genau unter die Lupe nimmt, wird man finden, dass er nicht gleichmäßig abläuft. Häufig wechselt er die Richtung und kehrt sich sogar gelegentlich um. Gegen eine immanente Zweckmäßigkeit oder den Hang zur Perfektion spricht letztlich auch die Häufigkeit, mit der sich das Aussterben von Arten in allen geologischen Formationen beobachten lässt.

Die Bedenken gegen den befürchteten Zufallsaspekt der natürlichen Auswahl lassen sich leicht zerstreuen. Der Vorgang ist überhaupt nicht vollkommen willkürlich. Zwar entstehen die Varianten nach dem Zufallsprinzip, aber auf der zweiten Stufe des Evolutionsprozesses, bei der Auswahl durch Überleben, werden sie keineswegs willkürlich selektiert. Und sollte dennoch ein Teil der Evolution Resultat eines Zufalls sein, dann wissen wir doch heute, dass auch physikalische Prozesse eine wesentlich größere Wahrscheinlichkeitskomponente besitzen, als man vor hundert Jahren angenommen hat.

Wie dem auch sei, kann die natürliche Selektion tatsächlich den langen Weg der Evolution von drei bis vier Milliarden Jahren bis zu den höchsten Pflanzen und Tieren einschließlich des Menschen erklären? In welcher Form ist die natürliche Selektion sowohl für unterschiedliche Überlebensraten und für Anpassungsänderungen innerhalb einer Art zuständig als auch für den Aufstieg neuer, anders adaptierter Arten? Wieder ist es Darwin, der die richtige Antwort bietet: Ein Organismus konkurriert nicht nur mit den anderen Individuen seiner Spezies, sondern auch mit allen Individuen anderer Spezies. Eine neugewonnene Adaption oder eine generelle physiologische Verbesserung machen ein Individuum auch zum starken Konkurrenten anderer Arten und tragen deshalb zu weiterer Divergenz und Spezialisierung bei. Oft führt eine derartige Spezialisierung auch in eine Sackgasse, wie die Anpassung an ein Leben in heißen Quellen oder in Höhlen. Die meisten Spezialisierungen, besonders die aus der frühen Evolutionsgeschichte, erschlossen völlig neue Ebenen weiterer Adaptionsmöglichkeiten. Das reicht von der Einführung der Zellmembran bis zum organisierten Zellkern und von der Aggregation von Einzellern und vielzelligen Organismen bis zum Auftreten hochentwickelter Zentralnervensysteme und verlängerter Brutpflege.

Die Evolution ist, nach G. G. Simpson, rücksichtslos opportunistisch: sie fördert jede Variation, die einem Organismus gegenüber Artgenossen oder Mitgliedern anderer Spezies einen Überlebensvorteil bietet. Milliarden Jahre lang hat dieser Prozess die Flamme des evolutionären "Fortschritts" genährt. Dieser Fortschritt war weder gerichtet noch gesteuert; er ist das Resultat von ad-hoc-Entscheidungen bei der natürlichen Selektion.

Eine große Lücke in Darwins Beweisführung entstammt seiner Unsicherheit, wo nun die Quelle der genetischen Variabilität zu finden sei, die das Rohmaterial für die natürliche Auswahl liefert. Die Genetiker konnten die Lücke schließen. 1865 entdeckte Gregor Mendel, dass die Erbfaktoren, über die Erbanlagen übertragen werden, diskrete Einheiten sind, die als Einheit unverändert erhalten, von jedem Elternteil an die Nachkommen übergehen, wobei sie jedesmal neu sortiert werden. Darwin hatte nie von den Mendelschen Regeln gehört, die unbekannt blieben, bis Correns, Tschermak und de Vries sie 1900 wiederentdeckten.

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Heute wissen wir, dass die DNA im Zellkern aus zahllosen, sich selbst kopierenden Genen (Mendels Erbfaktoren) besteht, die eine Mutation erleiden können und dann unterschiedliche Allele oder alternative Formen bilden. Es gibt Strukturgene, die eine kodierte Anweisung zur Herstellung bestimmter Proteine liefern können, und Regulatorgene, die die Strukturgene an- und abschalten. Ein mutiertes Strukturgen wird zu einem veränderten Protein mit veränderten Eigenschaften führen. Die Gene sind auf den Chromosomen angeordnet und können bei der Meiose, dem der Bildung einer Samenzelle vorausgehenden Prozess in der Zelle, miteinander rekombiniert werden. Die Unterschiedlichkeit der Genotypen (vollständiger Gegensätze), die bei der Meiose entstehen können, ist fast unvorstellbar groß. Und alle diese Abweichungen sind in einer Population vorhanden, trotz der natürlichen Auslese.

Sonderbarerweise wollten die ersten Anhänger Mendels die Theorie der natürlichen Auswahl nicht anerkennen. Sie waren Essentialisten und Saltationisten, und für sie war die spontane Mutation die Triebfeder der Evolution. Das ändert sich nach der Entstehung der Populationsgenetik in den zwanziger Jahren. Erst dann wurde eine Synthese erreicht, im wesentlichen beschrieben und verbreitet in Büchern von Theodosius Dobzhansky, Julian Huxley, Bernhard Rensch, George G. Simpson, G. Ledyard Stebbins und mir. Mit der neuen "Synthetischen Theorie" der Evolution erweiterten wir Darwins Theorie unter Einbeziehung neuer Erkenntnisse der Chromosomentheorie, der Vererbungslehre, der Populationsgenetik, des biologischen Konzepts der Spezies und vieler anderer biologischer und paläontologischer Vorstellungen. Die neue Synthese lehnt jede Vererbung erworbener Eigenschaften vollständig ab und unterstreicht den schrittweisen Charakter der Evolution. Sie erkennt, dass sich Evolutionsphänomene immer als Populationsphänomene beschreiben lassen und bestätigt wiederum die überragende Wichtigkeit der Rolle, die der natürlichen Auslese zukommt.

Die Synthetische Theorie hat viel zum Verständnis des Evolutionsprozesses beigetragen. Ihr großer Einfluss auf die weitere biologische Forschung führte zu der Erkenntnis, dass jedes biologische Problem eine Evolutionsfrage birgt, dass es richtig und legitim ist, bei jeder Betrachtung einer Struktur, einer Funktion oder eines Prozesses in der Biologie zu fragen: Warum gibt es das? Welchen Überlebensvorteil brachte sein Erwerb? Fragen dieser Art hatten einen enormen Einfluss auf alle Gebiete biologischer Forschung, besonders auf Molekularbiologie, Verhaltensforschung und Ökologie.

Philosophen, Physiker und die meisten Nichtbiologen haben immer noch Schwierigkeiten, die moderne Begründung der Evolution durch natürliche Auswahl zu begreifen. Selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, möchte ich hier noch einmal die wichtigsten Gesichtspunkte der heutigen Evolutionstheorie zusammenfassen und besonders den Unterschied zwischen der Evolution des Lebendigen und der Evolution des Kosmos oder anderer Vorgänge, mit denen sich die Physiker befassen, herausstellen.

Evolution durch natürliche Selektion ist, ich wiederhole das, ein Prozess in zwei Stufen. In der ersten Stufe wird durch Rekombination, Mutation oder sonstige Zufälle eine genetische Variante gezeugt; in der zweiten wird durch Selektion Ordnung in die Masse der Varianten gebracht. Die erzeugten Varianten sind, da weder von den laufenden Bedürfnissen des Individuums verursacht noch von der Natur seiner Umwelt beeinflusst, immer zufallsbedingt.

Die natürliche Auslese kann deshalb so erfolgreich sein, weil ihr ein unerschöpflicher Strom von Varianten zufließt. Er entspringt aus dem hohen Individualitätsgrad aller biologischen Systeme. Noch nicht einmal zwei Zellen desselben Organismus sind einander vollkommen gleich; jedes Individuum ist einmalig, jede Spezies, jedes Biotop, jedes Ökosystem. Nichtbiologen können sich das Ausmaß organisch möglicher Varianten oft nicht vorstellen. Abgesehen davon ist es unvereinbar mit dem Denken in essentialistischen Kategorien. Ein ganz anderes Begriffssystem wird notwendig: Denken in Populationen. (Die Individualität biologischer Systeme und die Tatsache, dass es für beinahe alle Umweltvorgaben mehrere unterschiedliche Lösungen gibt, machen zusammen jede Evolution im organischen Bereich unwiederholbar. Astronomen mit deterministischen Ansichten lassen sich von statistischen Überlegungen zu der Überzeugung verleiten, dass alles, was sich auf der Erde ereignet hat, auch auf Planeten anderer Sterne stattgefunden haben muss. Biologen betrachten es dagegen unter dem Eindruck der geringen Wahrscheinlichkeit jedes einzelnen Entwicklungsschrittes in der Evolution des Menschen praktisch als ausgeschlossen, dass es zum zweitenmal gibt, was Simpson die "Vorherrschaft der Humanoiden" genannt hat.

Voneinander verschiedene Individuen sind in kreuzungsfähigen Populationen und in Arten organisiert. Alle Mitglieder einer Spezies sind sozusagen ein Teil von ihr, denn sie sind alle aus dem gemeinsamen Genpool entstanden und tragen zu ihm wieder bei. Die einzelne Population oder auch eine Spezies als Ganzes ist das eigentliche "Individuum", das der Evolution ausgesetzt ist, nicht ihre einzelnen Mitglieder.

Biologisch gesehen besitzt jedes Individuum einen eigentümlichen Dualismus. Es gehört zu einem Genotyp (die Gesamtheit seiner Gene, von denen nicht alle ausgeprägt sein müssen) und ist ein Phänotyp (der Organismus, der aus der Translation der Gene des Genotyps hervorgegangen ist). Der Genotyp ist Teil des Genpools der Population. Der Phänotyp konkurriert mit allen anderen Phänotypen um den reproduktiven Erfolg. Dieser Erfolg, der die Darwinsche Fitness" des Individuums bestimmt, ist nicht von innen her determiniert, sondern ist das Ergebnis vielfältiger Interaktionen mit Feinden, Konkurrenten, Krankheitserregern und anderen Auslesefaktoren. Die Konstellation der Faktoren ändert sich mit den Jahreszeiten, von Jahr zu Jahr, oder von Ort zu Ort.

Die zweite Stufe der natürlichen Auslese, der eigentliche Akt der Selektion, ist ein von außen wirksames Ordnungsprinzip. In einer Population von Tausenden oder Millionen eigenständiger Individuen werden einige von ihnen bestimmte Gensätze besitzen, die sie besser mit den vorherrschenden Umweltbedingungen fertig werden lassen als andere Individuen. Sie bekommen eine statistisch höhere Überlebenschance und werden wahrscheinlich mehr Nachkommen hinterlassen als andere Mitglieder der gleichen Population. Erst in dieser zweiten Stufe bekommt die natürliche Auslese eine gewisse Richtung. Es wird die Häufigkeit der Gene und Genkonstellationen zunehmen, die zu einer gegebenen Zeit und an einem gegebenen Ort anpassungsfähig sind, die Fitness erhöhen, Spezialisierung fördern, einer sprunghaften Ausbreitung Vorschub leisten und den evolutionären Prozess vorantreiben. Evolution durch Auslese unterliegt, mit anderen Worten, weder dem reinen Zufall, noch ist sie zielgerichtet. Evolution ist ein zweistufig hintereinander ablaufender Prozess, in dem Zufall und Notwendigkeit vorteilhaft miteinander verknüpft sind. Mit den Worten Sewall Wrights, einem der ersten Populationsgenetiker: "Der darwinsche Prozess ständiger Wechselwirkung zwischen einem zufallsbedingten und einem selektiven Vorgang ist keineswegs ein Mittelding zwischen nacktem Zufall und reinem Determinismus; denn die Folgen dieses Prozesses sind von grundsätzlich anderer Qualität als die seiner beiden Komponenten."

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Soviel ich weiß, zweifelt kein Darwinist an der Tatsache, dass alle Prozesse der organischen Evolution im Einklang mit physikalischen Gesetzen ablaufen; daraus lässt sich jedoch nicht der Umkehrschluß ziehen, die biologische Evolution sei auf die Gesetze der Physik reduziert. Bei der biologischen Evolution wirken ganz bestimmte Prozesse auf ganz bestimmte Systeme ein, die sich wiederum nur aus dem Zusammenhang mit den gleichen Prozessen und Systemen sinnvoll beurteilen lassen, nicht aber bezüglich ihrer einzelnen Elemente. Die klassische Evolutionstheorie ist weit davon entfernt, zur "Molekulartheorie der Evolution" reduziert zu werden, trotz der auf reduktionistischen Definitionen beruhenden Unterstellung, Evolution sei nichts anderes als "ein Wechsel in den Genfrequenzen natürlicher Populationen"; denn bei dieser Definition fallen die entscheidenden Aspekte der Evolution unter den Tisch: Änderungen der Vielfalt und der Anpassung. (Eines Tages gab ich einem Waschbären im Zoo ein Stück Würfelzucker. Er rannte damit zum Wasserbassin und wusch den Zucker mit Hingabe solange, bis nichts mehr übrig war. Man soll kein komplexes System so weit auseinandernehmen, dass nichts Sinnvolles übrig bleibt.)

Als wir in den dreißiger und vierziger Jahren die neue Synthese erreicht hatten, fragten uns einige Außenstehende, ob damit nicht das Ende der Evolutionsforschung erreicht sei, ob nicht alle Fragen eine Antwort gefunden hätten. Die Antwort auf beide Fragen ist ein entscheidendes "Nein". Das macht schon der exponentielle Anstieg in der Zahl der Publikationen über Evolutionsbiologie deutlich. Lassen Sie mich auf einige der Fragen eingehen, die zur Zeit die wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet bewegen. Nach wie vor ist die Rolle des Zufalls Gegenstand vieler Untersuchungen. 1871 wurde zum ersten Mal darüber diskutiert, ob die Selektion nicht vielleicht nur für den kleineren Teil evolutionärer Veränderungen verantwortlich zu machen sei, und ob nicht viele oder gar die meisten Veränderungen wirklich nur zufällige Varianten sind, sogenannte "neutrale" Mutationen.

Seit es mit der Technik der Elektrophorese möglich ist, auch kleinste Unterschiede in der Zusammensetzung eines bestimmten Enzyms herauszufinden, haben Vergleiche zwischen einer großen Zahl zufällig ausgewählter Individuen einer Population veranschaulicht, welche enorme Menge von Allelen (mutierten Genen) dabei auftritt. Die erste Frage war, welcher Teil davon entfällt auf evolutionäres "Hintergrundrauschen", und welcher verdankt seine Existenz der Selektion? Wie lassen sich die Genvarianten zwischen "neutralen" und relativ wichtigen Allelen aufteilen?

Neue Fragen entstehen aus der Entdeckung der Molekularbiologen, dass es zwei Arten von Genen gibt, Strukturgene und Regulatorgene. Ist die Evolutionsrate für beide Arten die gleiche? Unterliegen sie in gleicher Weise der natürlichen Selektion? Ist das eine Gen oder das andere wichtiger bei der Artenbildung oder der Entstehung höherer Formen? (Zum Beispiel sind die Strukturgene von Schimpanse und Mensch bemerkenswert ähnlich. Vielleicht sind es die Regulatorgene, die für die meisten Unterschiede zwischen ihnen und uns verantwortlich sind?) Gibt es vielleicht noch andere Arten von Genen?

Darwins Lieblingsproblem, die Vervielfältigung der Arten, ist wieder in den Mittelpunkt der Forschung gerückt. In bestimmten Gruppen von Organismen scheinen neue Arten nur durch geographische Speziesbildung zu entstehen, durch die genetische Restrukturierung von Populationen, die vorn Rest des Verbreitungsgebietes ihrer Spezies isoliert sind, wie Vögel auf einer Insel. Dagegen kann bei Pflanzen und bei einigen Tiergruppen eine andere Form der Speziesbildung auftreten, und zwar als Folge der Polyploidie, der Verdopplung der Chromosomen. Individuen mit verdoppeltem Chromosomensatz können sich nicht mehr mit ihren normalen Artgenossen fortpflanzen, sind von ihnen also reproduktiv isoliert.

Noch eine andere Art der Speziesbildung zeigen Parasiten oder Insekten, die sich an das Leben auf einer bestimmten Wirtspflanze adaptieren. Gelegentlich wird eine neue Wirtsart zufällig kolonisiert, und die Nachkommen der Eindringlinge können, vielleicht mit Hilfe geeigneter Gene, eine stabile Kolonie gründen. Sollte das gelingen, dann wird es eine strenge Genauswahl geben, und Reproduktion wird vorzugsweise mit Individuen stattfinden, die ebenfalls auf der neuen Wirtsspezies leben. Unter diesen Bedingungen kann sich dann erst eine neue Rasse entwickeln, die dem neuen Wirt angepasst ist, später vielleicht auch eine neue, wirtsspezifische Art. Über die Häufigkeit dieser Speziesbildung wird noch gestritten. Auch über die Rollen, die Gene oder Chromosomen bei der Speziesbildung spielen, ist man sich noch keineswegs einig.

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Auf wenigen Gebieten der Biologie hat sich das Denken in Evolutionsbegriffen so segensreich ausgewirkt wie in der Verhaltensforschung. Schon die klassischen Ethologen konnten zeigen, dass manche Verhaltensweisen, wie beispielsweise die verschiedenen Riten beim Balzverhalten, genauso zuverlässige Indizien für taxonomische Verwandtschaften sein können wie Einzelheiten des Körperbaus. Ganze Systematiken sind auf der Basis von Verhaltensvergleichen aufgestellt worden, und sie stimmen bemerkenswert gut mit den Systematiken überein, die vom Körperbau ausgehen. Oft konnten Verhaltensvergleiche entscheidende Hinweise geben, wenn die morphologischen Daten mehrdeutig waren. Wichtiger noch war die Erkenntnis, dass Verhaltensänderungen oft - vielleicht ausnahmslos - als Schrittmacher der Evolution dienen. Die Wahl eines neuen Habitats, das Erschließen einer neuen Nahrungsquelle, erzeugen einen Selektionsdruck und können wichtige Adaptionsschübe auslösen. Es lässt sich kaum bezweifeln, dass einige der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des Lebens von Verhaltensänderungen in Gang gesetzt wurden, wie die Eroberung des Landes oder der Luft. Dem Selektionsdruck, der solche Evolutionsschritte verstärkt, widmen die Forscher wachsende Aufmerksamkeit.

Die Erkenntnis, dass unsere Welt nicht statisch in einem bestimmten Zustand verharrt, sondern ständigem Wandel unterworfen ist, und dass unsere Spezies das Produkt einer Evolution ist, musste dem menschlichen Selbstverständnis unvermeidlich einen schweren Schlag versetzen. Heute haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, dass wir einer Entwicklungslinie angehören, die sich im Lauf von Millionen Jahren von affenartigen Vorfahren abgetrennt hat. Die entscheidenden Schritte dieser Entwicklung wurden innerhalb der letzten Million Jahre getan. Wir wissen, dass für diesen Vorgang nur die natürliche Selektion verantwortlich sein kann. Doch lassen sich aus der Kenntnis vergangener Ereignisse auch Voraussagen für die weitere Entwicklung der Menschheit ableiten? Nur die, dass es auch in Zukunft in der organischen Evolution kein teleologisches Element geben wird, dass erworbene Eigenschaften auch in Zukunft nicht vererbt werden, und dass außer der Selektion kein anderer Mechanismus denkbar ist, der die biologische Evolution des Menschen beeinflussen könnte.

Diese Schlussfolgerung bringt uns in ein Dilemma. Die Eugenik, die willkürliche Selektion nach Erbgesundheitskriterien, befindet sich im Konflikt mit höchsten menschlichen Werten. Doch abgesehen von allen moralischen Bedenken: Die Information, die das Fundament für eine solche Selektion bilden müsste, gibt es einfach nicht. Wir wissen so gut wie nichts über die genetischen Komponenten menschlicher Eigenschaften, ausgenommen die rein körperlichen. Es gibt eine enorme Zahl und sehr viele Schattierungen des sogenannten "guten" oder "nützlichen" oder angepassten Menschen. Wer wäre sicher, würde er sich heute auf eine bestimmte Menge idealer Eigenschaften festlegen, ob nicht gesellschaftliche Veränderungen durch weitere technische Fortschritte so schnell eintreten, dass morgen vielleicht eine ganz anders zusammengesetzte Eigenschaftsmenge zur erstrebten harmonischen Gesellschaft führt. "Die Menschheit befindet sich mitten in der Entwicklung", sagt Dobzhansky, "aber wir können nicht wissen, in welche Richtung die biologische Entwicklung geht".

Es gilt, noch eine andere Evolution zu betrachten, die der menschlichen Kultur. Das ist ein ausschließlich auf den Menschen beschränkter Prozess, bei dem die Umwelt nicht nur ihn formt und zur Anpassung zwingt, sondern auch selbst geformt und angepasst wird. Vögel, Fledermäuse und Insekten durchliefen eine Evolution von Millionen Jahren, bis sie die Fähigkeit zum Fliegen entwickelt hatten. "Der Mensch ist der gewaltigste Flieger von allen geworden, aber nicht durch eine Rekonstruktion seines Genotyps, sondern durch die Konstruktion von Flugmaschinen", sagt Dobzhansky. Evolution von Kultur geht wesentlich schneller von statten als biologische Evolution. Einer der Gründe dafür ist die (witzigerweise Lamarcksche) Fähigkeit der menschlichen Rassen, Kultur durch die Weitergabe erlernter Information von Generation zu Generation zu entwickeln, moralische (und amoralische) Werte eingeschlossen. Sicher lassen sich gerade auf diesem Gebiet noch große Fortschritte erzielen, besonders wenn man bedenkt, wie bescheiden das Niveau der moralischen Werte in der heutigen Menschheit ist. So wenig wir unsere biologische Evolution steuern können, so leicht könnten wir unsere kulturelle und moralische Entwicklung beeinflussen. Das zu versuchen und dafür eine Richtung zu finden, die für die gesamte Menschheit akzeptabel erscheint, wäre ein realistisches evolutionäres Ziel; mit der Einschränkung, dass es Grenzen gibt für eine kulturelle und moralische Evolution in einer Spezies, deren biologische Evolution sich selbst überlassen ist.

Quelle: "Evolution" Verlag Spektrum (leicht gekürzt)

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